Die wesentliche Neuerung ist die Bewegung selbst, nichts ist festgeschrieben, nichts ist statisch, nichts ist, wie es war, nichts wird sein, wie es ist. Auch die Produktion eines ethnographischen Filmes ist ein Prozeß, an dem viele beteiligt sind, dessen Ergebnis offen ist, offen bleibt, ist doch an ihm, am Ergebnis, auch der Zuschauer beteiligt, der wechselnde Zuschauer, der nicht kontrollierbare Zuschauer. Das Wesentliche des Prozesses ist es, eine Offenheit zu schaffen, die Neues entstehen läßt, auch oder vor allem Unvorhersehbares. Die Zusammenarbeit von mehreren, die daraus resultierende Kreativität, die daraus resultierende Vielstimmigkeit, ermöglichen ganz neue Kompositionen.
In den seltensten Fällen ist der Ethnologe in der Lage, bei den öffentlichen Vorführungen an?wesend zu sein, was ein Mangel hinsichtlich der Wirkungsforschung darstellt. Diese liegt meist in Händen Dritter, wird aber insgesamt innerhalb der Visuellen Anthropologie vernachlässigt. Grundsätzlich ist hinsichtlich einer öffentlichen Vorführung das westliche Publikum, für das der Film gemacht ist, und das einheimische Publikum zu unterscheiden.
Damit sind wir bei Rezipienten angelangt, einem weiteren Beteiligten, der nur allzulange vollkommen unberücksichtigt blieb. Clifford spricht ihm als Mitwirkendem Eigenständigkeit zu, sieht ihn aber auch als Teil der ihn umgebenden gesellschaftlichen Bedingungen.
"Die neuere Literaturtheorie ist der Ansicht, daß das Vermögen eines Textes, Sinn zu machen, weniger von den gewollten Absichten eines schaffenden Autors abhängt, als von der schöpferischen Tätigkeit eines Lesers." (Clifford 1988:30)
"Jede Geschichte hat die Tendenz, eine andere Geschichte im Kopf des Lesers (oder Zuhörers) hervorzubringen, eine frühere Geschichte zu wiederholen bzw. zu ersetzen." (Clifford 1986b:100)
"Die Bedeutungen eines ethnographischen Bericht sind unkontrollierbar. Weder eines Autors Intention noch ein fachliches Training noch die Regeln des Genre können die Leseweisen eines Textes begrenzen, die mit neuen historischen, wissenschaftlichen oder politischen Projekten entstehen." (Clifford 1986b:120)
Dennoch bleibt festzustellen, daß der Leser (oder Zuhörer) erst langsam ins Bewußtsein des Schreibenden (oder Redenden) gelangt.
Der Abschnitt über die Ethnographie endete mit dem Rezipient, als aktiv Mitwirkender - in der schreibenden Wissenschaft ein relativ neuer Gedanke. Beim Film hingegen steht der Zuschauer sozusagen Pate. Filme werden generell für ein Publikum gemacht, der Filmemacher hat dieses immer auch im Hinterkopf. Dabei ist die Erkenntnis wesentlich, das es kulturelle Unterschiede in der Wahrnehmung von Bildern gibt. Schon in den 20er Jahren wurden dazu Untersuchungen gemacht:"Aus diesem und weiteren Experimenten können zwei Schlüsse gezogen werden: erstens, daß jedes menschliche Wesen ein visuelles Bild wahrnehmen und identifizieren kann; zweitens, daß selbst die einfachsten visuellen Bilder in verschiedenen Kulturen unterschiedlich interpretiert werden. Wir wissen somit also, daß Menschen diese Bilder "lesen" müssen. Wenn wir ein Bild betrachten, findet ein Prozeß intellektuellen Verstehens statt - uns nicht unbedingt bewußt -, und es folgt daraus, daß wir zu irgendeiner Zeit dieses Verständnis gelernt haben müssen." (Monaco 1995:152-153)